VIII

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An der Wand hing ein großes Pappeschild, mit schwarzer Far- be schief beschrieben: Deckenpfand 100 Mark und Personal- ausweis. Es roch muffig, nach Elend und dem seltsamen Som- merschweiß der Armen. Er ließ sich langsam in der langen Schlange nach vorne zwängen, wo ein finsteres Loch in einer dicken Betonwand ›Eingang‹ überschrieben war. Die Frau, die am Eingang einen schmutzigen Stapel halbzerrissener Decken verwaltete, fragte nach Papieren, und er reichte ihr den Entlas- sungsschein hin, den Regina ihm besorgt hatte. Sie trug seinen Namen in eine Liste ein, fragte kurz: »Decke?«, und als er den Kopf schüttelte, schob sie ihn weiter, ihr graues Gesicht zuckte gierig und nervös, und sie schnappte dem nächsten seinen schmutzigen Ausweis aus der Hand. Hinten drängten sie: weiter, weiter…

Er ließ sich nach innen treiben. Drinnen war es schon voll. Al- le Bänke und Tische waren besetzt, und er setzte sich auf den Boden. Er war müde; es war dämmerig, aus irgendeinem Schlitz kam noch Tageslicht, keine Lampe brannte. Plötzlich fingen alle an, nach Licht zu schreien, eine gierige Versammlung von un- persönlichen Stimmen, die »Licht« brüllten, »Licht«. Ein gries- grämiger Beamter erschien in der Tür und verkündete mit trok- kener Stimme, es würde kein Licht mehr gemacht, weil die Bir- nen jede Nacht gestohlen würden – er wartete das johlende Auf- heulen ab – und verkündete eine Art Hausordnung, die haupt- sächlich darin bestand, vor Diebstählen zu warnen, und ver- sprach, daß zu den Zügen am Morgen ausgerufen werden soll- te…

Er hatte sich auf den Betonboden gehockt, in einer Ecke, wo er dem Gedränge der neu Hereinströmenden nicht ausgesetzt war, und war froh, zunächst Ruhe zu haben, aber als es dunkel wurde, schien alles schlimmer zu werden. Jeder Zug, der ankam, schien

neue Massen zerlumpter Zeitgenossen anzuschleppen, dreckige

Gestalten mit Kartoffelsäcken, zerbeulten Koffern, und entlasse-

ne Soldaten, die ihre grauen Mützen in den Händen drehten oder die Finger in den Manteltaschen vergruben. Jedesmal, wenn Neue kamen, ging die Tür auf, und er sah dann die beleuchteten Köpfe, schwarz und unkenntlich in dem trüben Licht, das vom Flur hereinfiel…

Später kam der Beamte noch einmal und verkündete ins Dun- kel hinein, daß Rauchen verboten sei. Vielstimmiges Geheul antwortete ihm, und er schrie wütend: »Meinetwegen raucht und verreckt.«

An verschiedenen Ecken brannten Kerzenstummel, und die Glut vieler Zigaretten und Pfeifen bewirkte eine milde Beleuch- tung. Hinter ihm hockten zwei Frauen auf einer Bank, die mit Kisten und Koffern einen großen Teil des Bodens besetzt hiel- ten. Wenn er die einzelnen ansah, schienen sie alle arm müde und still zu sein wie er, aber als Masse wirkten sie laut und ab- stoßend, und als die Kerzen eine nach der anderen erloschen und nur noch ein sehr schwacher Schimmer von den Zigaretten herrschte, fingen sie alle an zu essen. Die Frauen mit den Kisten und Koffern hinter ihm hörte er besonders deutlich: sie kauten unermüdlich, es schien ihm endlos, wie sie kauten, erst Brot, viele Brote eine lange, sehr lange Zeit horte er dieses trockene kaninchenhafte Muffeln, mit dem sie Brot aßen im Dunkeln. Dann irgendetwas Feuchtes und zugleich Knackendes, es schien Obst zu sein, Äpfel. Zuletzt tranken sie: er hörte sehr deutlich das glucksende Geräusch, wenn sie aus der Flasche tranken. Auch links und rechts, vor und hinter ihm fingen alle im Dun- keln an zu essen, sie schienen alle nur auf die Dunkelheit gewar- tet zu haben, um zu essen; es war ein hundertfaches heimliches Fletschen und Kauen, hier und da entstand Gezänk, das schnell erstickt wurde; und dieses vielfache Essen setzte sich in seinem Gehirn fest wie das Geräusch einer Verdammtheit, für die er keinen Namen hatte: Essen schien keine schöne Notwendigkeit mehr, sondern ein finsteres Gesetz, das sie zwang, zu verschlin- gen, um jeden Preis zu verschlingen, während ihr Hunger nicht gestillt, sondern vermehrt zu werden schien: es schien ihm, als

keuchten sie. Das Essen dauerte stundenlang, und wenn ein Teil

des Bunkers ruhiger zu werden schien, wurde von draußen, vom Bahnhof her, wieder eine neue Menge hineingepreßt, es wurde immer enger, und nach einer gewissen Zeit fing wieder dieses Rascheln von Papier an, das Brechen von Kartons, das hastige Herumsuchen an Säcken, Paketen, das Aufschnappen von Schlössern und dieses widerliche Gurgeln aus Flaschen, in dunk- ler Heimlichkeit…

Später flüsterten sie, es wisperte im Dunkeln, weckte Erinne- rung an glückliche Hamsterfahrt, Bedauern über das Schwinden der Vorräte…

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, obwohl er fror. Er hatte

den Zipfel einer Decke erwischt, setzte sich darauf und lehnte sich hinten gegen einen prallen Rucksack, er spürte die Kartof- feln wie die Knochen eines geheimnisvollen Gerippes. Immer noch rauchten welche, die Punkte glühender Zigaretten schienen sich zu mehren, die Luft wurde dick und schauerlich. Später leierte in einer Ecke sehr leise eine Ziehharmonika. Eine Stimme rief laut: »›Erika‹ spiel mal ›Erika‹…« Die Ziehharmonika spiel- te ›Erika‹. Andere schrien nach anderen Liedern und der Har- monikaspieler mit einer heiseren Stimme verlangte Bezahlung; dann wurden im Dunkeln unsichtbare Gaben für den Harmoni- kaspieler rundgereicht, in unsichtbare Hände gelegt und auf eine flinke und lautlose Wanderschaft in die Finsternis geschickt: eine Scheibe Brot oder ein Apfel, eine halbe Gurke oder eine Kippe. Plötzlich entstand irgendwo Krach, Schimpfen und eine Prügelei, die sich auf eine Gabe bezog, die nicht weitergereicht worden war; jedenfalls leugnete der Harmonikaspieler, sie emp- fangen zu haben, und verweigerte das Lied, und im Nu war im Sektor des Spenders die Stelle ausfindig gemacht, wo die Gabe verschwunden war; in der dunklen Masse zeichneten sich die Bewegungen der Streitenden ab: ein bedrohliches Wogen sich drängender und stoßender Leute. Dann war Ruhe, und der Har- monikaspieler spielte für jemand anderen.

Die beiden Frauen hinter ihm schienen schon zu schlafen, sie waren ganz still, weiter zurück hörte er das geile Kichern eines

Pärchens, die Harmonika verstummte, und die glühenden Punkte

der Zigaretten wurden weniger; er tastete im Dunkeln seitlich und stieß auf formlose Bündel, von denen er nicht wußte, ob es Säcke oder Menschen waren…

Später mußte er eingeschlafen sein, er wurde sehr plötzlich geweckt von einem wüsten Geschrei: irgend jemand war auf irgend jemand getreten; es schien eine Balgerei zu geben, bei der ein Gepäckstück verschwand, eine helle und aufgeregte Männer- stimme rief: »Mein Koffer, mein Koffer… ich muß zum Zug, zum 2 Uhr 40.« Eine Menge Stimmen wiederholten: »2 Uhr 40, da müssen wir auch mit«, es entstand eine wilde Bewegung im Finsteren und die Männerstimme schrie immer noch nach ihrem Koffer. Dann ging die Tür auf, und im Flur sah er eine vielköp- fige Menge stehen, beleuchtet von der trüben Birne, und die Männerstimme schrie: »Polizei, Polizei, mein Koffer…«

Es wurde mäuschenstill, als im Flur zwei Papphelme sich durch die Menge nach vorne drängten, dann huschte der sehr blanke Schein einer großen Taschenlampe in den Raum, be- leuchtete Staubteilchen und die geduckte, harrende Menge, die sehr demütig erschien, wie betend, das Gesicht zum Licht hin.

Die Polizistenstimme sagte ruhig und deutlich: »Der Koffer, wenn der Koffer nicht…«, aber in diesem Augenblick schien der

Mann schon seinen Koffer in der Hand zu haben, er rief: »Da ist

er, ich habe ihn«, und aus der Masse schrien ihm Stimmen ent- gegen: »Alter Idiot, dummes Schwein, paß auf nächstens…«

Die Tür wurde geschlossen, und es war wieder dunkel, aber von dieser Zeit an konnte er nicht mehr schlafen. Alle Viertel- stunden entstand Bewegung, verbreitete sich Unruhe wie Wel-

lengang, Züge wurden ausgerufen, man rief nach Bekannten,

brüllte sich zu seinem Gepäck durch, und die Luft in diesem Betonklotz schien immer dicker und widerwärtiger zu werden… Manchmal wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn, während er gleichzeitig spürte, daß er von unten fror. Die Decke und auch der Sack, an den er sich angelehnt hatte, waren weg. Er rutschte langsam weiter, bis er auf Widerstand stieß, beugte sich über dieses Etwas, um festzustellen, ob es tot oder

lebend war, und roch die konzentrierte Schärfe von Zwiebeln, er

entdeckte, daß es ein Korb war, zugenäht und groß. Er setzte sich auf den Korb, schon zu sitzen war wunderbar, er hockte sich zusammen, ließ den Kopf auf die Brust sinken und schlief für kurze Zeit wieder ein, bis jemand ihn einfach vom Korb herun- terstieß: »Freches Schwein«, sagte eine Stimme, und er fing sich taumelnd auf dem steinigen Boden, kroch seitwärts, kauerte sich zusammen und wartete eine Weile…

Die Zwischenräume waren größer geworden, und er kroch weiter, bis er den Atem eines Menschen hörte: langsam tastete er sich heran, fühlte einen Schenkel, einen Schuh: es war ein Frau-

enschuh, hohe Absätze und ein kleiner Fuß, und er beugte sich

dorthin vor, wo ihr Gesicht sein mußte: der warme Atem traf ihn, er hielt seine Hände in den Bereich dieses warmen Atems hinein, beugte sich tiefer, aber er konnte nichts sehen, dann ent- deckte er in dem Geruch dieser unbekannten Frau, von der er weder Alter noch Aussehen kannte, etwas wie Seife: ein ganz leichter Geruch von Parfüm und Seife. Er blieb über sie gebeugt, und er hielt sein Gesicht nahe an ihren Atem: der Atem war warm, ruhig, und der schöne Seifengeruch schien immer stärker zu werden; er wälzte sich seitlich zu ihr und drückte sein Gesicht in ihren Mantel hinein: Moschus, etwas Pfefferminz, dieser starke und schöne Geruch bewirkte, daß er einschlief…

Als er wieder erwachte, wurde der Raum geleert; die unbe- kannte Frau neben ihm war weg, und er ließ sich von der Masse nach außen drängen, wieder wurde er an dem Tisch, wo die schmutzigen Decken aufgestapelt lagen, festgehalten, mußte seine Papiere zeigen und warten, bis festgestellt worden war, ob er eine Decke bekommen hatte; an diesem Tisch stand jetzt ein Mann, ein alter griesgrämiger Invalide, der die kalte Pfeife im Mund hielt, stumpfsinnig die Decken einsammelte und den Be- sitzern ihr Geld in die ausgestreckten dreckigen Hände zählte…

Draußen war es sehr hell, wärmer, und als er anfing, nach dem Zettel zu suchen, brach ihm sofort vor Angst der Schweiß aus: er konnte ihn nicht finden; er suchte hastig, fieberhaft, und spürte, wie der Schrecken tief saß und tödlich, der Schrecken über ein

verlorenes oder gestohlenes Brot, sein Herz klopfte rasend, und

er brach fast in Tränen aus, als er endlich den winzigen, zusam- mengedrückten Zettel oben in seiner Brusttasche entdeckte: er faltete ihn auseinander, glättete ihn sorgfältig und ging weiter: Gut für ein Brot, abzuholen bei… immer noch klopfte sein Herz, als er weiterging…